Dogmatisch eingeordnet wird diese Frage in Deutschland in § 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und auf EU-Ebene im nahezu inhaltsgleichen Art. 101 Abs. 3 AEUV. Dort ist bestimmt, dass gewisse weniger schwerwiegende Beschränkungen des Wettbewerbs ausnahmsweise zulässig („freigestellt“) sein können, wenn sie (1) unbedingt erforderlich sind, (2) zu einer Verbesserung von Warenerzeugung, -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen und (3) die Verbraucher daran angemessen beteiligt werden. Hier stellt sich also dogmatisch die Frage, ob Nachhaltigkeitsziele unter die unter (2) genannten Themen subsumiert werden können.
Diese Frage ist nicht trivial, denn das Kartellrecht schützt zuvorderst den Wettbewerb und nicht die Natur, die Umwelt oder Menschenrechte. Entsprechend wurde in der Vergangenheit auch regelmäßig seitens verschiedener Kartellbehörden, insbesondere seitens des Bundeskartellamtes, argumentiert, dass das Kartellrecht in erster Linie den Wettbewerb schütze und dies dann aber auch dem Umweltschutz diene. Denn im kompetitiven Wettstreit miteinander müssten Unternehmen stets nach effizienteren, Ressourcen schonenderen, günstigeren Wegen suchen, ihre Produkte und Dienstleistungen herzustellen bzw. anzubieten. Darüber hinaus sei aber Nachhaltigkeit nicht Aufgabe des Kartellrechts. Dem liegt die Sorge zugrunde, der Wettbewerb könnte bei einer Abwägung zugunsten von „Drittthemen“ nachhaltigen Schaden nehmen.
Österreich nimmt Vorreiterrolle ein
Ungeachtet dieser Vorbehalte schreiten aber einzelne Akteure auf der europäischen Kartellrechtsbühne voran. Zu nennen ist insbesondere Österreich, das im vergangenen September explizit Nachhaltigkeitskriterien ins nationale Kartellgesetz aufgenommen hat. Die Ausnahme vom grundsätzlichen Kartellverbot wurde ausgedehnt, sodass eine ausreichende Beteiligung der Verbraucher auch dann gegeben ist, wenn der vorausgesetzte Gewinn, der aus der Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder der Förderung des technischen/wirtschaftlichen Fortschritts entsteht, wesentlich zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft beiträgt. Österreich ist damit Vorreiter in der EU. Maßnahmen gab es aber auch andernorts. So hat die Europäische Kommission in ihrem Entwurf neuer Horizontalleitlinien erstmals ein ganzes Kapitel zum Thema Nachhaltigkeitsvereinbarungen vorgesehen. Die niederländische Kartellbehörde ACM hat einen bereits überarbeiteten Entwurf von Leitlinien zur kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen zwischen Unternehmen veröffentlicht. Er enthält einen allgemeinen Analyserahmen dazu, welche Vereinbarungen per se unbedenklich sind und welche zu einer Wettbewerbsbeschränkung führen und daher einer Rechtfertigung bedürfen. Die britische CMA hat im März dieses Jahres ihren „environmental sustainability advice to government“ veröffentlicht. Dieser geht unter anderem auf die Bewertung von Fällen ein, in denen Umweltschutzinitiativen zu Wettbewerbsbeschränkungen führen.
Bundeskartellamt veröffentlicht erste Fallberichte
So war es letztlich nicht verwunderlich, dass sich auch das deutsche Bundeskartellamt jüngst zu diesem Themenkomplex äußerte. Das Amt tat dies nicht in Form von (Entwurfs-)Leitlinien oder Ähnlichem, sondern in Form von Fallberichten. In einem der Fälle ging es um eine Initiative zur Förderung existenzsichernder Löhne im Bananensektor. Hier sollten die Teilnehmer auf freiwilliger Basis eine bestimmte Menge Bananen, die unter Einhaltung existenzsichernder Löhne und örtlicher Mindestpreise produziert werden, nach Deutschland einführen und verkaufen. Das Bundeskartellamt interessierte sich besonders für die Vereinheitlichung von Preisbestandteilen beim Einkauf, nahm letztlich aber keine abschließende materiell-rechtliche Bewertung des Systems vor, sondern verzichtete im Rahmen seines Aufgreifermessens auf weiter gehende Maßnahmen. Dabei betonte das Amt, dass es neben der Freiwilligkeit der Teilnahme bzw. der Unverbindlichkeit des gesamten Systems bedeutsam war, dass zwischen den teilnehmenden Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels kein Austausch zu Einkaufspreisen, Kosten, Produktionsmengen oder zu Margen stattfand.
Ähnlich urteilte das Bundeskartellamt in einem zweiten Sachverhalt, der Initiative Tierwohl in der Milcherzeugung. Zentrale Elemente des dem Amt vorgestellten Programms sind die Einführung eines Labels für Produkte, die bestimmte Tierwohlkriterien erfüllen, sowie die Finanzierung der anfallenden Mehrkosten mittels eines sogenannten Tierwohlaufschlags für die Erzeuger. Grundsätzlich problematisch sieht das Amt allerdings die Vereinbarung eines verbindlichen pauschalen Tierwohlaufschlags, der auch nur für eine Anlaufphase bis 2024 toleriert werden soll. Im Anschluss müsse erneut evaluiert werden, inwieweit zusätzliche wettbewerbliche Elemente eingeführt werden können.