Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Freien Demokraten vom 24.11.2021 trägt den Titel „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Geplante Vorhaben der Koalition, die Auswirkungen auf das Gesellschaftsrecht, das Unternehmensrecht im weiteren Sinne und die Compliance-Belange von Unternehmen haben, finden sich an mehreren Stellen des Koalitionsvertrags. Aus unternehmensrechtlicher Perspektive hervorzuheben sind insbesondere die nachfolgenden Punkte:
Unternehmerische Mitbestimmung
Die Koalition will die unternehmerische Mitbestimmung in Unternehmen weiterentwickeln. Ziel ist es, „eine Behinderung der demokratischen Mitbestimmung im Unternehmen“ (S. 71 des Koalitionsvertrags) und damit die missbräuchliche Umgehung geltender Mitbestimmungsregelungen nach dem Drittelbeteiligungsgesetz und dem Mitbestimmungsgesetz zu verhindern.
Im Einzelnen will sich die Koalition dafür einsetzen, dass die aus dem Mitbestimmungsgesetz bekannte Konzernzurechnung (§ 5 MitbestG) auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen wird (S. 72 des Koalitionsvertrags). Die Ampelkoalition will sich zudem dafür stark machen, dass „es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt)“ (S. 71 des Koalitionsvertrags). Bezüglich der unternehmerischen Mitbestimmung der SE, die durch supranationale Regelungen (SE-VO, SE-Beteiligungs-RL) vorgegeben wird, stellt sich allerdings die Frage, ob die Koalition eine rein nationale Regelung anstrebt, um den weitgehend durch die europäische SE-RL vorgegebenen Einfriereffekt einzuschränken, oder ob eine Anpassung der mitbestimmungsrechtlichen Regelungen für die SE auf europäischer Ebene angestrebt wird. Eine europäische Regelung erscheint unwahrscheinlich, berücksichtigt man, wie lange die Einführung der Europäischen Gesellschaft gebraucht hat, und den Umstand, dass die europäischen Institutionen bei einer ersten Evaluierung von SE-VO und SE-RL durchaus Verbesserungsbedarf konstatierten, allerdings eine Anpassung politisch für praktisch nicht umsetzbar hielten. Eine rein nationale Einschränkung des Einfriereffekts erscheint hinsichtlich ihrer Zulässigkeit fraglich. Als Stellschraube könnte insoweit wohl vor allem § 18 Abs. 3 SEBG in Betracht zu ziehen sein, indem man das Überschreiten der Schwellenwerte des DrittelbG und des MitbestG als einen Unterfall struktureller Änderungen qualifiziert.
Daneben beabsichtigt die Koalition, die Konzernzurechnung aus dem Mitbestimmungsgesetz auf das Drittelbeteiligungsgesetz zu übertragen, sofern „faktisch eine echte Beherrschung vorliegt“ (S. 72 des Koalitionsvertrags). Eine entsprechende Anpassung könnte auf der Ebene des Drittelbeteiligungsgesetzes mit der Konsequenz erfolgen, dass eine Vielzahl von Konzernen mit im Durschnitt mehr als 500, aber weniger als 2.000 inländischen Arbeitnehmern, die in einem nur faktisch, d. h. ohne rechtliche Eingliederung und ohne Beherrschungsvertrag, beherrschten Konzernunternehmen tätig sind, künftig in den Geltungsbereich des Drittelbeteiligungsgesetzes einbezogen würden. Dies hätte zur Folge, dass zwingend Aufsichtsräte mit einem Drittel Arbeitnehmerbeteiligung auf der Ebene der Konzerngesellschaften zu bilden wären, denen im Durchschnitt mehr als 500 inländische Arbeitnehmer zugerechnet werden können. Dies dürfte insbesondere bei größeren mittelständischen Unternehmen von Bedeutung sein, die bisher durch Verzicht auf Eingliederung bzw. Abschluss eines Beherrschungsvertrags die Zurechnung verhindert haben.
Die Ampelkoalition will sich ferner dafür einsetzen, dass bei grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen von Gesellschaften nationale Beteiligungsrechte respektiert und gesichert werden. Ziel ist es, die demokratische Mitbestimmung auf europäischer Ebene und europäische Betriebsräte zu fördern und weiterzuentwickeln. Auch wenn der Koalitionsvertrag diesbezüglich nur die betriebliche Mitbestimmung erwähnt, dürfte auch hier die Stoßrichtung eine Mitbestimmungsgestaltung – etwa auf der Grundlage des MgVG – sein.
Unternehmenssanktionengesetz
Auf Seite 111 des Koalitionsvertrags wird ausgeführt, dass die Koalition plant, die Vorschriften über Unternehmenssanktionen zu überarbeiten. Nähere Ausführungen dazu, ob die Überarbeitung eine grundlegende Neufassung des in der vergangenen Legislaturperiode knapp gescheiterten Verbandssanktionengesetzes darstellen oder ob es sich nur um die Überprüfung und Anpassung des gesetzlichen Rechtsrahmens zur „Sanktionshöhe“ (S. 111 des Koalitionsvertrags) handeln soll, lässt sich dem Koalitionsvertrag nicht eindeutig entnehmen. Der Koalitionsvertrag führt insoweit lediglich konkret aus, dass eine Überprüfung der Regelungen zur „Sanktionshöhe“ erfolgen soll. Ob dies zu einer Erhöhung oder zu einer systematischen Neufassung des derzeitigen Sanktionensystems führt, bleibt abzuwarten. Mit Blick auf die Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 09.05.2017 (BGH, Urteil vom 09.05.2017 – I StR 265/16) könnte die gesetzliche Regelung von Sanktionen – und Strafzumessungsregelungen unter Berücksichtigung präventiver sowie repressiver Compliance-Maßnahmen zu einer größeren Rechtsanwendungsklarheit führen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Koalition ferner plant, Unternehmen mehr Rechtssicherheit bei der Erfüllung von Compliance-Pflichten zu geben. Es soll insbesondere ein präziser Rechtsrahmen für interne Untersuchungen geschaffen werden (S. 111 des Koalitionsvertrags).
Umsetzung der europäischen Hinweisgeberrichtlinie
Die Koalition setzt sich zum Ziel, die europäische Hinweisgeberrichtlinie (EU/2029/1937), deren Umsetzungsfrist am 17.12.2021 abläuft, zeitnah umzusetzen. Die Ampelkoalition möchte in diesem Zusammenhang über die EU-Regeln hinaus Hinweisgeber nicht nur bei Meldungen von Verstößen gegen EU-Recht, sondern auch dann vor rechtlichen Nachteilen schützen, wenn sie erhebliche Verstöße gegen nationale Vorschriften oder sonstiges erhebliches Fehlverhalten melden, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Die Koalition flankiert dies mit dem Ziel, die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien zu verbessern und hierfür beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote zu prüfen.