Mit dem zweigleisigen Vertrieb ist eine Konstellation gemeint, in der ein Anbieter Waren oder Dienstleistungen nicht nur auf der vorgelagerten, sondern auch auf der nachgelagerten Stufe verkauft – und somit mit seinen unabhängigen Händlern im Wettbewerb steht. Genau dieses Wettbewerbsverhältnis zwischen dem Anbieter und seinem Abnehmer auf der nachgelagerten Stufe ist der kartellrechtlich neuralgische Punkt des zweigleisigen Vertriebs. Denn eigentlich gilt die kartellrechtliche Freistellung nach der neuen Vertikal-GVO gerade nicht für (vertikale) Verträge zwischen Wettbewerbern.
Der zweigleisige Vertrieb soll jedoch ausnahmsweise von der Freistellungswirkung der neuen Vertikal-GVO profitieren können, wenn klar ist, dass die potenziell positiven Auswirkungen des zweigleisigen Vertriebs die potenziell negativen Auswirkungen überwiegen. Hierfür müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, insbesondere die folgenden:
- Es dürfen keine sog. Kernbeschränkungen vorliegen.
- Der Abnehmer darf nicht (auch) auf der vorgelagerten Stufe mit dem Anbieter im Wettbewerb stehen.
- Die Marktanteile des Anbieters (auf seinem Angebotsmarkt) und des Abnehmers (auf seinem Einkaufsmarkt) dürfen jeweils nicht mehr als 30 Prozent betragen.
Diese Voraussetzungen galten auch schon nach der alten Vertikal-GVO, die bis zum 31. Mai 2022 Gültigkeit beanspruchen konnte. Die Kommission hatte es sich jedoch auf die Fahne geschrieben, den zweigleisigen Vertrieb strenger zu regeln. Dementsprechend stand zu befürchten, dass es mit der neuen Vertikal-GVO aufwendiger wird, einen zweigleisigen Vertrieb kartellrechtlich zu rechtfertigen. Diese strengeren Neuerungen sollen nachfolgend kurz angerissen werden.
Grenzen der kartellrechtlichen Freistellung des zweigleisigen Vertriebs
In der neuen Vertikal-GVO wird explizit darauf hingewiesen, dass der Informationsaustausch zwischen dem Anbieter und dem Abnehmer – im Falle des zweigleisigen Vertriebs – „horizontale Bedenken“ aufwerfen kann. Nun kann man zwar anmerken, dass es dieses Problem eines möglicherweise kartellrechtswidrigen Informationsaustauschs beim zweigleisigen Vertrieb (und generell im Vertikalverhältnis) schon immer gab; unbestreitbar wird dieses Thema aber erst mit der neuen Vertikal-GVO explizit als kartellrechtliches Problem des zweigleisigen Vertriebs gekennzeichnet und eine erste Orientierung für dessen Einordnung gegeben: Die kartellrechtliche Freistellung eines Informationsaustauschs zwischen Anbieter und Abnehmer in der Konstellation des dualen Vertriebs ist nur dann nach der neuen Vertikal-GVO möglich, wenn dieser entweder
- direkt die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft oder
- zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder dienstleistungen erforderlich ist.
Es versteht sich von selbst, dass diese Voraussetzungen (stark) auslegungsbedürftig sind. Das beginnt schon damit, dass nicht ganz klar zu sein scheint, ob immer beide Voraussetzungen erfüllt sein müssen (worauf die Erwägungsgründe der neuen Vertikal-GVO in Rz. 13 hinweisen) („Und“-Verknüpfung) oder nicht. Die neuen Leitlinien geben Beispiele für einen Informationsaustausch im Zusammenhang mit dem zweigleisigen Vertrieb, der gerechtfertigt sein (vgl. Rz. 99 der neuen Leitlinien) bzw. zu weit gehen dürfte (vgl. Rz. 100). Daneben sollen die neuen Horizontal-Leitlinien weitere Hinweise zur kartellrechtlichen Bewertung eines Informationsaustauschs auch im Falle des zweigleisigen Vertriebs liefern.
Der Umstand, dass der Informationsaustausch in der Konstellation des zweigleisigen Vertriebs nun strenger als in der Vergangenheit bewertet wird, folgt auch daraus, dass die Kommission kurz vor dem Erlass der neuen Vertikal-GVO eine Regelung aufgegeben hat, wonach dieser Informationsaustausch bei geringen Marktanteilen der Beteiligten immer nach der Vertikal-GVO freigestellt ist. Es ist gut nachvollziehbar, dass diese pauschale Regel aufgegeben wurde. Denn schließlich kann ein Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern auch eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellen, die eben unabhängig von der Marktanteilshöhe der Beteiligten kartellrechtswidrig ist.