2 Minuten Lesezeit 8 August 2022
Parkhaus beleuchtet

Neues Vertriebskartellrecht – zweigleisiger Vertrieb

Von Nils Gildhoff, LL.M.

Director | Rechtsanwalt | Ernst & Young Law GmbH | Deutschland

Nils Gildhoff ist Rechtsanwalt bei EY Law und im Bereich Kartellrecht und Compliance tätig.

2 Minuten Lesezeit 8 August 2022
Verwandte Themen Rechtsberatung

Die Fallgruppe des zweigleisigen (oder dualen) Vertriebs gewinnt zunehmend an Bedeutung

Überblick
  • Am 1. Juni 2022 ist die Verordnung (EU) 2022/720 der Kommission vom 10. Mai 2022 über die Anwendung des Artikels 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen („neue Vertikal-GVO“) in Kraft getreten. Begleitet wird die neue Vertikal-GVO von Leitlinien zu vertikalen Beschränkungen („neue Leitlinien“).
  • Dieser neue kartellrechtliche Bewertungsrahmen für die Lieferung und den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen in der EU soll für die nächsten 12 Jahre gelten. 
  • Spätestens am 1. Juni des nächsten Jahres (2023) gilt für alle vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen nur noch die neue Vertikal-GVO. 
  • Daher ist es für Unternehmen dringend geboten, sich darüber klar zu werden, welche neuen kartellrechtlichen Vorgaben für ihre Vertriebsverhältnisse gelten.

Mit dem zweigleisigen Vertrieb ist eine Konstellation gemeint, in der ein Anbieter Waren oder Dienstleistungen nicht nur auf der vorgelagerten, sondern auch auf der nachgelagerten Stufe verkauft – und somit mit seinen unabhängigen Händlern im Wettbewerb steht. Genau dieses Wettbewerbsverhältnis zwischen dem Anbieter und seinem Abnehmer auf der nachgelagerten Stufe ist der kartellrechtlich neuralgische Punkt des zweigleisigen Vertriebs. Denn eigentlich gilt die kartellrechtliche Freistellung nach der neuen Vertikal-GVO gerade nicht für (vertikale) Verträge zwischen Wettbewerbern.

Der zweigleisige Vertrieb soll jedoch ausnahmsweise von der Freistellungswirkung der neuen Vertikal-GVO profitieren können, wenn klar ist, dass die potenziell positiven Auswirkungen des zweigleisigen Vertriebs die potenziell negativen Auswirkungen überwiegen. Hierfür müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein, insbesondere die folgenden:

  • Es dürfen keine sog. Kernbeschränkungen vorliegen.
  • Der Abnehmer darf nicht (auch) auf der vorgelagerten Stufe mit dem Anbieter im Wettbewerb stehen.
  • Die Marktanteile des Anbieters (auf seinem Angebotsmarkt) und des Abnehmers (auf seinem Einkaufsmarkt) dürfen jeweils nicht mehr als 30 Prozent betragen.

Diese Voraussetzungen galten auch schon nach der alten Vertikal-GVO, die bis zum 31. Mai 2022 Gültigkeit beanspruchen konnte. Die Kommission hatte es sich jedoch auf die Fahne geschrieben, den zweigleisigen Vertrieb strenger zu regeln. Dementsprechend stand zu befürchten, dass es mit der neuen Vertikal-GVO aufwendiger wird, einen zweigleisigen Vertrieb kartellrechtlich zu rechtfertigen. Diese strengeren Neuerungen sollen nachfolgend kurz angerissen werden.

Grenzen der kartellrechtlichen Freistellung des zweigleisigen Vertriebs

In der neuen Vertikal-GVO wird explizit darauf hingewiesen, dass der Informationsaustausch zwischen dem Anbieter und dem Abnehmer – im Falle des zweigleisigen Vertriebs – „horizontale Bedenken“ aufwerfen kann. Nun kann man zwar anmerken, dass es dieses Problem eines möglicherweise kartellrechtswidrigen Informationsaustauschs beim zweigleisigen Vertrieb (und generell im Vertikalverhältnis) schon immer gab; unbestreitbar wird dieses Thema aber erst mit der neuen Vertikal-GVO explizit als kartellrechtliches Problem des zweigleisigen Vertriebs gekennzeichnet und eine erste Orientierung für dessen Einordnung gegeben: Die kartellrechtliche Freistellung eines Informationsaustauschs zwischen Anbieter und Abnehmer in der Konstellation des dualen Vertriebs ist nur dann nach der neuen Vertikal-GVO möglich, wenn dieser entweder

  • direkt die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft oder
  • zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder ­dienstleistungen erforderlich ist.

Es versteht sich von selbst, dass diese Voraussetzungen (stark) auslegungsbedürftig sind. Das beginnt schon damit, dass nicht ganz klar zu sein scheint, ob immer beide Voraussetzungen erfüllt sein müssen (worauf die Erwägungsgründe der neuen Vertikal-GVO in Rz. 13 hinweisen) („Und“-Verknüpfung) oder nicht. Die neuen Leitlinien geben Beispiele für einen Informationsaustausch im Zusammenhang mit dem zweigleisigen Vertrieb, der gerechtfertigt sein (vgl. Rz. 99 der neuen Leitlinien) bzw. zu weit gehen dürfte (vgl. Rz. 100). Daneben sollen die neuen Horizontal-Leitlinien weitere Hinweise zur kartellrechtlichen Bewertung eines Informationsaustauschs auch im Falle des zweigleisigen Vertriebs liefern.

Der Umstand, dass der Informationsaustausch in der Konstellation des zweigleisigen Vertriebs nun strenger als in der Vergangenheit bewertet wird, folgt auch daraus, dass die Kommission kurz vor dem Erlass der neuen Vertikal-GVO eine Regelung aufgegeben hat, wonach dieser Informationsaustausch bei geringen Marktanteilen der Beteiligten immer nach der Vertikal-GVO freigestellt ist. Es ist gut nachvollziehbar, dass diese pauschale Regel aufgegeben wurde. Denn schließlich kann ein Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern auch eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung darstellen, die eben unabhängig von der Marktanteilshöhe der Beteiligten kartellrechtswidrig ist.

Fazit

Die Sprengkraft eines möglicherweise kartellrechtswidrigen Informationsaustauschs hat Einzug in den Regelungsrahmen der neuen Vertikal-GVO gefunden. Scheinbar geht es dabei nur um die Konstellation des zweigleisigen Vertriebs; es ist aber zu bedenken, dass ein kartellrechtswidriger Informationsaustausch auch zwischen potenziellen Wettbewerbern schon einer Rechtfertigung bedarf. Ein solches potenzielles Wettbewerbsverhältnis zwischen Anbieter und Abnehmer kann jedoch in nahezu jedem Fall einer vertikalen Vertriebsbeziehung bestehen. Der zweigleisige Vertrieb hat das Thema des Informationsaustauschs im Vertikalverhältnis nun in den kartellrechtlichen Fokus gerückt, da das Wettbewerbsverhältnis zwischen den beteiligten Unternehmen hier ein aktuelles und nicht nur ein potenzielles ist. Unternehmen sollten spätestens jetzt nicht nur im Falle des dualen Vertriebs sehr genau darauf schauen, welche Informationen mit den jeweiligen Vertriebspartnern ausgetauscht werden sollen bzw. tatsächlich ausgetauscht werden.

Über diesen Artikel

Von Nils Gildhoff, LL.M.

Director | Rechtsanwalt | Ernst & Young Law GmbH | Deutschland

Nils Gildhoff ist Rechtsanwalt bei EY Law und im Bereich Kartellrecht und Compliance tätig.