Person arbeitet an Braille-Laptop

Digitale Barrierefreiheit - neue Pflichten für privatwirtschaftliche Unternehmen

Lokaler Ansprechpartner

Martina S. Buhr

18 September 2024
Thema News
Bereich Compliance

Am 28.06.2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Ziel des Gesetzes ist es, allen Menschen eine gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe am Wirtschaftsleben zu ermöglichen. Gefordert ist die digitale Barrierefreiheit. Wenn Sie jetzt denken: „Bis dahin ist ja noch viel Zeit“, sollten Sie unbedingt weiterlesen. Denn ab dem Stichtag müssen die Barrierefreiheitsanforderungen umgesetzt sein, sonst drohen empfindliche Sanktionen. Details zu Vorgaben, Geltungsbereich und Konsequenzen der Gesetzesänderung finden Sie in diesem Beitrag.

Einführung

Grundlage des Gesetzes ist die Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen. Die als European Accessibility Act (EAA) bezeichnete Richtlinie gilt nicht unmittelbar wie eine Verordnung in Europa, sondern muss durch die jeweiligen Gesetzgeber der Mitgliedstaaten in innerstaatliches Recht umgesetzt werden. In Deutschland wird diese Umsetzung durch das BFSG vollzogen, das bereits am 22.07.2021 erlassen wurde und die Vorgaben des EAA mit Wirkung zum 28.06.2025 in innerstaatliches Recht überführt.

Regelungen zur Barrierefreiheit im digitalen Raum für öffentliche Stellen gelten bereits seit 2021: Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) verpflichtet öffentliche Stellen des Bundes unter anderem, ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten (§ 12a Abs. 1 BGG). Diese Verpflichtung wird mit dem BFSG nun auch auf privatwirtschaftliche Unternehmen ausgeweitet.

Mit der Einführung des BFSD werden in Deutschland erstmals private Unternehmen zur Barrierefreiheit im digitalen Raum verpflichtet. Das BFSG verlangt von Unternehmen, dass Menschen mit Behinderungen Produkte und Dienstleistungen ohne zusätzliche Schwierigkeiten nutzen können. Angesichts der demografischen Entwicklung und der Tatsache, dass ausweislich einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Ende 2023 rund 7,9 Millionen Menschen in Deutschland als schwerbehindert registriert waren (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 281 vom 19.07.2024), gewinnt Barrierefreiheit zunehmend an Bedeutung.

Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich

Das BFSG gilt im B2C-Bereich, also zwischen Unternehmen und Verbrauchern, da es im Interesse der Verbraucher und Nutzer die Barrierefreiheit gewährleisten und die Rechte der Verbraucher stärken soll. Es betrifft Hersteller, Importeure, Händler und Anbieter von alltäglichen Produkten wie etwa Computern, Notebooks, Tablets, Smartphones, Geldautomaten, Fahrausweis- und Check-in-Automaten, E-Book-Lesegeräten, Routern und Fernsehgeräten mit Internetzugang (§ 1 Abs. 2 BFSG). Neben den genannten Produkten sind auch angebotene Dienstleistungen wie Telekommunikationsdienste, E-Books und hierfür bestimmte Software, Messenger-Dienste, elektronische Bankdienstleistungen und Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr erfasst (§ 1 Abs. 3 BFSG). Viele Websites fallen ebenfalls unter diese Kategorie, insbesondere Onlineshops, aber auch andere Dienstleistungen wie Websites und Apps für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), Kontaktformulare, Kundensupport und Terminbuchungsmasken (§ 1 Abs. 3 BFSG).

Inhalte und Ziele des BFSG – Stichwort „Barrierefreiheit“

Das BFSG verpflichtet private Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie für jeden Nutzer barrierefrei, das heißt in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind (§ 3 Abs. 1, Satz 2 BFSG). Enthält die Dienstleistung beispielsweise visuelle oder auditive Komponenten, müssen zudem Bedienungsformen enthalten sein, die eine Nutzung bei fehlendem Seh- oder Hörvermögen ermöglichen, oder es müssen Bedienungsformen vorhanden sein, die eine Nutzung der Dienstleistung bei kognitiven Einschränkungen erleichtern und vereinfachen. In diesem Zusammenhang ist das 2-Sinne-Prinzip zu beachten. Danach ist der Informationszugang immer über zwei der drei Sinneskanäle Hören, Sehen und Tasten zu ermöglichen – zum Beispiel durch Texte, die sowohl gelesen als auch gehört werden können.

Die konkreten Anforderungen an die Barrierefreiheit im Sinne des BFSG ergeben sich aus der das BFSG ergänzenden Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 22.06.2022, die für die einzelnen vom Gesetz erfassten Produkte und Dienstleistungen spezifische Anforderungen an die Barrierefreiheit definiert. Sie enthält neben den Vorgaben für bestimmte Produkte und Dienstleistungen auch allgemeine Vorgaben zu deren Verpackungen, Anleitungen und Funktionalität. Im Rahmen der Anforderungen zur Barrierefreiheit müssen zudem die „Web Content Accessibility Guidelines“ (WCAG) berücksichtigt werden, die europaweite Standards für die Gestaltung zugänglicher Internetseiten festlegen. So ist etwa darauf zu achten, dass Texte und Hintergründe einen ausreichenden Kontrast aufweisen, die Schriftgröße angemessen ist und dass Nutzerinnen und Nutzer die Option haben, die Einstellungen nach ihren persönlichen Bedürfnissen zu modifizieren.

Im Gegensatz zum BGG, das von öffentlichen Einrichtungen verlangt, Informationen in „Leichter Sprache“ bereitzustellen, müssen private Unternehmen Informationen lediglich „verständlich“ darstellen (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 BFSGV). Das bedeutet, dass Informationen klar strukturiert und ohne komplizierte Satzkonstruktionen präsentiert werden sollten.

Ausnahmen

Das BFSG sieht allerdings auch Ausnahmen vom persönlichen Geltungsbereich vor. Dies betrifft zunächst Kleinstunternehmen (Unternehmen, die weniger als zehn Personen beschäftigen und entweder einen Jahresumsatz von höchsten 2 Mio. Euro erzielen oder deren Jahresbilanzsumme sich auf höchstens 2 Mio. Euro beläuft), sofern sie nicht die oben genannten Produkte wie Smartphones, Tablets und E-Book-Lesegeräte vertreiben. Eine Ausnahme gilt darüber hinaus für Fälle, in denen die Einhaltung der BFSG-Anforderungen entweder eine unverhältnismäßige Belastung für das Unternehmen darstellt oder im Ergebnis zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung führen würde.

Eine unverhältnismäßige Belastung kann unter anderem dann vorliegen, wenn die Einhaltung der Barrierefreiheitsanforderungen eine zusätzliche übermäßige organisatorische oder finanzielle Belastung für den Wirtschaftsakteur darstellt. Das Gesetz listet dafür Kriterien auf (§ 17 BFSG i. V. m. Anlage 4 [zu den §§ 17, 21 und 28 BFSG]).

Eine grundsätzliche Veränderung der Wesensmerkmale eines Produkts oder einer Dienstleistung wird angenommen, wenn diese nach der Anwendung des BFSG nicht mehr mit ihrer ursprünglichen Form übereinstimmen, beispielsweise durch das Hinzufügen neuer Funktionen oder Effekte. Der Terminus „Wesensveränderung“ lässt sich somit mit dem Konzept der „neuen Sache“ gemäß § 950 BGB vergleichen. Die Entscheidung, ob etwas als „neue Sache“ gilt, basiert nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung auf der Verkehrsauffassung unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte und wird durch Anzeichen wie eine Namensänderung, eine Modifikation der materiellen Substanz, die Beständigkeit der Veränderung und ein verändertes Erscheinungsbild bestimmt.

Beruft sich ein Unternehmen auf einen der Ausnahmetatbestände, muss es unverzüglich die für das betroffene Bundesland zuständige Marktüberwachungsbehörde sowie die Marktüberwachungsbehörde in den jeweiligen Mitgliedstaaten, in denen das Produkt auf den Markt gebracht bzw. die Dienstleistung erbracht wird, informieren. Ob einer der Ausnahmetatbestände vorliegt, beurteilt das Unternehmen zunächst selbst. Diese Beurteilung ist zu dokumentieren und für fünf Jahre aufzubewahren.

Kleinstunternehmen sind von diesen Pflichten grundsätzlich ausgenommen. Werden sie aber von der Marktüberwachungsbehörde aufgefordert, müssen sie die für ihre Beurteilung entscheidenden Tatsachen an diese übermitteln.

Sanktionen bei Verstößen gegen das BFSG

Unternehmen, die das BFSG nicht fristgerecht oder nur unvollständig umsetzen, riskieren erhebliche Strafen. Marktüberwachungsbehörden können Produkte und Dienstleistungen sowohl mit Anlass als auch ohne überprüfen und das Unternehmen bei Nichtkonformität zu Korrekturmaßnahmen auffordern. Werden die Maßnahmen nicht umgesetzt, kann die zuständige Marktüberwachungsbehörde Bußgelder bis zu 100.000 Euro verhängen oder – nach vorheriger Abmahnung – anordnen, das Angebot oder die Dienstleistung einzuschränken oder gar ganz einzustellen. Darüber hinaus können Produkte sogar zurückgerufen werden. Auch ist zu beachten, dass die Vorgaben des BFSG als Marktverhaltensregeln im Sinne des § 3a des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) gelten. Deshalb können Mitbewerber ebenso wie qualifizierte Verbraucherschutzverbände bei Nichteinhaltung eine Abmahnung aussprechen.

Die Nichtbeachtung des Gesetzes stellt jedoch nicht nur eine Ordnungswidrigkeit dar, sondern bedeutet zugleich auch den Verlust der Gelegenheit, aktiv zur Förderung der Barrierefreiheit beizutragen und Bereiche wie Produktentwicklung, Gestaltung von Internetseiten und die Gewinnung neuer Kunden innovativ weiterzuentwickeln.

Übergangsregelungen

Betroffene Produkte und Dienstleistungen müssen ab dem 28.06.2025 barrierefrei sein. Für einige gelten jedoch Übergangsbestimmungen, nach denen die Barrierefreiheitsanforderungen erst zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt sein müssen.

Selbstbedienungsterminals, die der Dienstleistungserbringende bis zu diesem Datum rechtskonform in Betrieb genommen hat, dürfen weiterhin genutzt werden, und zwar bis zum Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzungsdauer, maximal jedoch für 15 Jahre ab Inbetriebnahme – was eine zulässige Nutzung bis spätestens 2040 bedeuten kann.

Dienstleistungen unter dem Einsatz von Produkten, die bereits vor dem 28.06.2025 rechtmäßig angeboten wurden, müssen erst ab dem 28.06.2030 barrierefrei sein. Verträge über Dienstleistungen, die vor dem 28.06.2025 abgeschlossen wurden, können bis zum Ende ihrer vereinbarten Laufzeit fortgeführt werden, jedoch nicht über den 27.06.2030 hinaus.

Fazit und Ausblick

Das Gesetz erfordert teilweise erhebliche Änderungen an Produkten und Dienstleistungen, insbesondere auch an Internetseiten. Unternehmen stehen somit vor der Herausforderung, ihre Produkte und Dienstleistungen entsprechend anzupassen. Die technische Umsetzung wird eine enge Zusammenarbeit mit IT-Dienstleistern und KI-Anbietern erfordern, ebenso wie Abstimmungen mit Marketing- und Webdesign-Abteilungen. Unternehmen sind daher gut beraten, bereits jetzt mit den Vorbereitungen zu beginnen, denn die Konsequenzen einer fehlenden Konformität können im Extremfall – zum Beispiel durch die Anordnung der Untersagung der Dienstleistung – verheerend ausfallen.

Das BFSG ist ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe für Menschen mit Behinderungen im digitalen Bereich. Es bietet neben den benannten Herausforderungen auch die Möglichkeit, gesellschaftlichen und unternehmerischen Mehrwert zu schaffen und Innovation wie auch Inklusion zu fördern. Barrieren abzubauen und die Kundenzufriedenheit wie auch die Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern sind lohnende Ziele, die über die gesetzlichen Anforderungen und die damit verbundenen Herausforderungen hinausgehen.

Kontaktpersonen: Martina Buhr, Kerstin Bangen

Direkt in Ihr E-Mail Postfach

Wir informieren Sie monatlich über aktuelle Themen insbesondere aus den Bereichen Arbeitsrecht, M&A, Gesellschaftsrecht, PE, Kartellrecht, Energierecht, Digital Law, Public Law, Public Mobility Law und Legal Process and Technology. Wenn Sie an unserem Newsletter und dem Law Quarterly Webcast interessiert sind, können Sie sich hier anmelden.

Preference Center