Von praktischer Relevanz sind zivilrechtlich im Fall der Verletzung der Insolvenzantragspflicht insbesondere die Haftung gem. § 15b InsO gegenüber der Gesellschaft für Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife und zum anderen die Haftung gegenüber sogenannten Neugläubigern gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO. Neugläubiger in diesem Sinne ist, wer erst nach Eintritt der Insolvenzreife Gläubiger der Gesellschaft geworden ist. Gegenüber Neugläubigern haftet der Geschäftsführer für das negative Interesse.
Ausgangsfall
In dem der Entscheidung des BGH (Urteil vom 23.07.2024, Az.: II ZR 206/22) zugrunde liegenden Fall war der Beklagte im Zeitraum von Februar 2013 bis Juni 2016 Geschäftsführer der späteren Schuldnerin. Diese war bereits seit dem Jahr 2011 durchgängig insolvenzreif. Das Insolvenzverfahren wurde jedoch erst im Juli 2018, also gut zwei Jahre nach dem Ausscheiden des Beklagten als Geschäftsführer, eröffnet.
Im Zuge der Abberufung des Beklagten als Geschäftsführer wurde im Juni 2016 ein neuer Geschäftsführer bestellt. Unter der Ägide des neuen Geschäftsführers schloss die Klägerin im Juli 2016 einen Vertrag mit der Schuldnerin, der bis zur Insolvenzeröffnung nicht erfüllt wurde. Die Klägerin verlangte als Neugläubigerin vom Beklagten Schadensersatz wegen Insolvenzverschleppung.
Die Entscheidung des BGH
Der BGH hat eine Haftung des Beklagten wegen Insolvenzverschleppung gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO gegenüber der Klägerin als Neugläubigerin bejaht. Der Beklagte habe seine Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags verletzt.
Die Haftung des Beklagten sei auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil er im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zwischen der Schuldnerin und der Klägerin gar nicht mehr deren Geschäftsführer war. Die vom Beklagten noch während seiner Stellung als Geschäftsführer begangene Verletzung der Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags sei für den Schaden der Klägerin kausal. Hätte der Beklagte pflichtgemäß Insolvenzantrag gestellt, wäre es nach seinem Ausscheiden als Geschäftsführer nicht mehr zum Abschluss des Vertrags mit der Klägerin gekommen. Die Kausalität entfalle auch nicht dadurch, dass die Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags nach dem Ausscheiden des Beklagten dem neuen Geschäftsführer oblag. Mit der Fortführung des Geschäftsbetriebs und damit auch mit dem Abschluss neuer Verträge durch die Schuldnerin sei auch nach dem Ausscheiden des Beklagten zu rechnen gewesen. Zudem könne sich ein Schädiger regelmäßig nicht damit entlasten, ein anderer habe die von ihm geschaffene Gefahrenlage pflichtwidrig nicht beseitigt. Das Verbot der Insolvenzverschleppung habe auch den Zweck, insolvenzreife Gesellschaften vom Geschäftsverkehr fernzuhalten. Dieser Schutzzweck bestehe auch nach der Beendigung der Organstellung des Geschäftsführers nach seiner Antragspflichtverletzung unverändert fort.
Eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs komme nur in Betracht, wenn sich bei wertender Betrachtung das durch die Pflichtverletzung des ausgeschiedenen Geschäftsführers geschaffene Risiko bei Abschluss des zum Schaden des Neugläubigers führenden Vertrags nicht mehr auswirkt. Das sei etwa der Fall, wenn sich die Gesellschaft nach der Antragspflichtverletzung des ausgeschiedenen Geschäftsführers zunächst wieder nachhaltig erholt hatte und erst nach seinem Ausscheiden wieder insolvenzreif geworden war. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall, weil die Schuldnerin seit 2011 durchgängig insolvenzreif war.
Auswirkung auf die Praxis
In der Praxis führt die Entscheidung des BGH zu einer erheblichen Verschärfung des Haftungsrisikos für Geschäftsleiter. Die besondere Brisanz der Entscheidung liegt darin, dass die Haftung auf Geschäfte ausgeweitet wird, die in eine Zeit fallen, in welcher der ausgeschiedene Geschäftsleiter keinerlei Einfluss mehr auf die Gesellschaft hat. Er kann weder den Abschluss des Geschäfts mit dem Neugläubiger verhindern noch kann er die von ihm versäumte Stellung eines Insolvenzantrags nachholen, um so die von der insolventen Gesellschaft ausgehende Gefahr für den Geschäftsverkehr zu beenden, weil es ihm hierzu an der Antragsberechtigung fehlt.
Gleichzeitig verstärkt das Urteil das Dilemma, in dem sich der Geschäftsleiter einer Gesellschaft in der Krise befinden kann. Stellt er verfrüht Insolvenzantrag, kann er sich gegenüber den Gesellschaftern schadensersatzpflichtig machen. Bei unterlassener oder verspäteter Antragstellung droht hingegen die Haftung wegen Insolvenzverschleppung. In der Literatur wurde mitunter vertreten, der Geschäftsleiter könne diesem Dilemma durch eine Amtsniederlegung entgehen. Nach der aktuellen Entscheidung des BGH hilft dem Geschäftsleiter eine Amtsniederlegung jedoch nur noch, wenn diese erfolgt, bevor er den Tatbestand der Insolvenzverschleppung verwirklicht hat. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Geschäftsleiter sein Amt niederlegt, bevor die Insolvenzantragsfrist des § 15a Abs. 1 InsO abgelaufen ist. Praktisch kann es allerdings extrem schwierig sein, im konkreten Fall den Fristablauf zu beurteilen. Schon die Feststellung des Fristbeginns kann problematisch sein. Der Fristbeginn knüpft an die objektive Erkennbarkeit der Insolvenzreife an, wodurch sich naturgemäß eine gewisse Unsicherheit in der Bewertung ergibt. Darüber hinaus ist die Bestimmung der Länge der Frist eine Frage des Einzelfalls. Bei den in § 15a Abs. 1 InsO genannten Fristen handelt es sich lediglich um Höchstfristen, die nur unter bestimmten Umständen vollständig ausgeschöpft werden dürfen.