4 Minuten Lesezeit 5 April 2022
image de silhouette d'une raffinerie de pétrole

Europäische Erdgasversorgung in Not

Von Christoph Fabritius

Partner | Infrastructure Markets Leader Tax & Law | Rechtsanwalt | Ernst & Young Law GmbH | Deutschland

Leidenschaftlicher Prozessanwalt und Berater. Begeisterter Düsseldorfer, wo er mit der Familie lebt. Liebt auch die Ruhe, beim Snowboarden, Segeln und Golfen.

4 Minuten Lesezeit 5 April 2022

Überblick über die aktuellen Entwicklungen und rechtlichen Anforderungen

Überblick

  • Im Rahmen der angespannten Versorgungslage beim Erdgas gibt es verschiedene Instrumente und Initiativen, die nun in den Fokus der Öffentlichkeit rücken.
  • Zuletzt und mit hoher Öffentlichkeitswirkung wurde am 30. März im Rahmen des Deutschen Notfallplans Gas die Frühwarnstufe ausgerufen. Dieser Notfallplan basiert auf der europäischen SOS-Verordnung.
  • Bereits Anfang März hatte die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Diversifizierung der Gasversorgung vorgelegt.
  • Seit Ende März gibt es einen Vorschlag für ein „Gasspeichergesetz“, das am 8. April 2022 im Bundesrat beschlossen und spätestens zum 1. Mai 2022 in Kraft treten soll.

Spätestens als am 30. März 2022 der Bundeswirtschaftsminister den Notfallplan Gas auf seiner ersten Warnstufe erstmals aktivierte, rückte die fragile Versorgungssituation beim Erdgas auch der breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein.

Die Europäische Union ist für ihre Versorgung mit Erdgas auf Lieferungen aus Drittländern angewiesen. Dabei stammen 40 Prozent des in der EU verbrauchten Erdgases aus Russland, zusätzlich 27 Prozent aller Einfuhren von Öl und 46 Prozent aller Kohleeinfuhren. Die der geopolitischen Spannungen seit Februar 2022 verstärkt die Bemühungen, die seit langem diskutierte Abhängigkeit von russischen Importen zu minimieren und Vorsorge für Notfallsituationen zu treffen. Die deutsche Abhängigkeit von russischem Erdgas betrug zu Jahresbeginn noch etwa 50 Prozent. Bemühungen, diese Abhängigkeit zu verringern, zeigen erste Wirkung. Es bleibt aber unklar, inwieweit die Versorgung mit Erdgas ohne größere Verwerfungen (z. B. Produktionseinstellungen) aufrechterhalten werden kann, sollten russische Gaslieferungen ausbleiben. Dabei kann die Einstellung sowohl aus einem Mangel an Erdgas selbst erfolgen als auch aus wirtschaftlichen Gründen aufgrund von Preissteigerungen. Letztere belasten schon jetzt Haushalte und Industrie erheblich. So haben sich die Preise für importierte Energie schon vor Februar 2022 um 229 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verteuert (Destatis vom 29. März 2022). In den vergangenen Monaten führte dies u. a. zu „gespaltenen Ersatz- bzw. Grundversorgungstarifen“. Hierzu liegt seit kurzem ein Referentenentwurf zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes vor. Im Übrigen hat der Koalitionsausschuss am 23. März 2022 ein erstes Maßnahmepaket veranlasst, das am 27. April im Kabinett verabschiedet werden soll.

Jenseits dieser energiewirtschaftlichen Fragen stellt sich die Frage, welche rechtlichen Möglichkeiten es gibt, auf eine ggf. bevorstehende Gasverknappung zu reagieren.

Gasspeichergesetz – Versorgungssicherheit durch volle Gasspeicher

Aufgrund der im Winter 2021/2022 historisch niedrigen Füllstände deutscher Gasspeicher wurde Ende März 2022 eine Änderung des EnWG im Bundestag beschlossen. Vorgesehen ist, dass gesetzliche Vorgaben für Füllstände von Gasspeichern (am 1. Oktober 80 Prozent, am 1. November 90 Prozent, am 1. Februar 40 Prozent) normiert werden sollen. Die Überwachung und Durchsetzung der Speicherbefüllung soll durch den Marktgebietsverantwortlichen Trading Hub Europe GmbH (THE) erfolgen. In einem mehrstufigen Verfahren soll die Speicherbefüllung zunächst marktbasiert erfolgen und soweit erforderlich angereizt werden. Werden die Mindestfüllstände absehbar nicht erreicht, dann greifen zusätzliche Instrumente, damit die Mindestmengen zu den verschiedenen Terminen erreicht werden. In einem letzten Schritt kann die THE physisches Gas erwerben. Als Überwachungs- und Sanktionsinstrument ist ein „Use it or loose it“-Mechanismus vorgesehen, wonach den Speichernutzern Kapazitäten entzogen und dem Marktgebietsverantwortlichen zur Verfügung gestellt werden, wenn die gebuchten Kapazitäten nicht genutzt werden. Die anfallenden Kosten werden auf die Netznutzer umgelegt.

REPowerEU – Vorschlag der EU zur Abkehr von russischen Rohstofflieferungen

Die Europäische Union legte am 8. März 2022 einen Vorschlag, den sog. REPowerEU-Plan, COM(2022) 108 final, vor, mit dem Europa deutlich vor 2030 von fossilen Brennstoffen aus Russland – zunächst von Erdgas – unabhängig gemacht und die aktuelle Notlage bewältigt werden soll.

Der REPowerEU-Plan enthält derzeit eher allgemeine Ziele zur Diversifizierung der Gasversorgung (z. B. Verdoppelung des „Fit for 55“-Ziels für Biomethan von 35 Mrd. Kubikmeter pro Jahr bis 2030), zur Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen beispielsweise durch Verdoppelung der PV- und Windenergiekapazitäten oder zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. 

Des Weiteren sind jedoch auch konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der Notlage vorgesehen, die die Möglichkeit zur Festlegung der Strompreise, Steuern auf übermäßige Gewinne und die Gewährleistung einer umfassenden Gasspeicherung umfassen. 

Versorgungssicherheit in Notlagen 

Bereits 2017 wurde die Europäische Verordnung über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung (Verordnung [EU] Nr. 2017/1938, SoS-VO) erlassen, aufgrund derer ein deutscher Präventions- und Notfallplan aufgestellt wurde (Präventionsplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland vom Juni 2019 und Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland vom September 2019). 

Gegenstand ist die Gewährleistung einer sicheren Erdgasversorgung in der Union durch die Sicherstellung eines funktionierenden Erdgasbinnenmarktes. Sollte die Versorgung über den Markt nicht möglich sein, so können aufgrund der Verordnung außerordentliche Maßnahmen ergriffen werden. Neben der Sicherung der eigenen Versorgungssicherheit eines EU-Staates sieht die Verordnung auch eine gegenseitige Unterstützung anderer EU-Staaten in Notlagen über Solidaritätsmaßnahmen vor.

Der deutsche Präventionsplan Gas

Auf der Grundlage der SoS-VO wurden im Juni und September 2019 der Deutsche Präventionsplan Gas und der Deutsche Notfallplan Gas verabschiedet. Der Präventionsplan enthält nach Vorgabe der SoS-VO Maßnahmen zur Absicherung der Erdgasversorgung durch ausreichende Speicherkapazitäten mit hoher Ausspeicherleistung, Ergebnisse der Risikobewertung, Maßnahmen, Mengen und Kapazitäten zur Erfüllung der Infrastruktur- und Gasversorgungsstandards sowie Verpflichtungen für Energieversorgungsunternehmen.

Der deutsche Notfallplan Gas

Der Notfallplan Gas regelt u. a., welche Kunden bei einem Lieferengpass zuerst keine Gaslieferungen mehr erhalten, und sieht dafür drei Krisenstufen vor. Bevor die höchste Notfallstufe ausgerufen wird, können – jedoch nicht verpflichtend – die Frühwarnstufe und die Alarmstufe ausgerufen werden. Je nach Stufe stehen unterschiedlich starke Instrumente zur Verfügung. In der Frühwarnstufe, die durch das BMWK am 30. März 2022 für Deutschland ausgerufen wurde, liegen „konkrete, ernst zu nehmende und zuverlässige Hinweise auf das Eintreten von Ereignissen vor, die wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgung sowie wahrscheinlich zur Auslösung der Alarm- bzw. Notfallstufe führen“. Durch das Ausrufen der Frühwarnstufe finden zunächst lediglich Maßnahmen zur stetigen Überprüfung der Versorgungssituation, die primär die Gasversorgungsunternehmen und Fernleitungsnetzbetreiber treffen, statt. Ein vom BMWK einberufenes Krisenteam (BMWK und Gasversorgungsunternehmen) wertet die Mitteilungen der Unternehmen aus, um ggf. weitere Maßnahmen einzuleiten. In Betracht kommen marktbasierte Maßnahmen wie Steigerungen der Produktions- und Importflexibilität, die Diversifizierung von Gaslieferungen und Gaswegen, ein Rückgriff auf Regelenergie, die koordinierte Abgabe durch Fernleitungsnetzbetreiber oder eine kommerzielle Gasspeicherung. Nutzerseitig können unter anderem freiwillige Abschaltungen oder Rückgriffe auf unterbrechbare Verträge eingesetzt werden.

Auf der zweiten Stufe, der sog. Alarmstufe, „liegt eine Störung der Gasversorgung vor oder es besteht eine außergewöhnlich hohe Nachfrage, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt“. Jedoch wird angenommen, dass der Markt noch mit der Störung zurechtkommt, die Nachfrage also ohne nicht marktbasierte Maßnahmen bewältigt werden kann. Indikatoren für das Vorliegen sind unter anderem das „Ausbleiben von Gasströmen an wichtigen physischen Einspeisepunkten, lang anhaltende sehr niedrige Speicherfüllstände und extreme Wetterverhältnisse bei gleichzeitig sehr hoher Nachfrage“. Staatlicherseits erfolgt die Feststellung der Alarmstufe durch das BMWK in einer Pressemitteilung. Zur Kompensation der Engpässe können weitere marktbasierte Maßnahmen getroffen werden, die sich mit den Maßnahmenoptionen der Frühwarnstufe decken.

Auf der Notfallstufe besteht eine „außergewöhnlich hohe Nachfrage, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere beträchtliche Verschlechterung der Versorgungslage“. Bisherige marktbasierte Maßnahmen führten nicht zu einer Deckung der noch verbliebenen Nachfrage, sodass ein staatlicher Eingriff notwendig ist. Zu den Indikatoren der Notfallstufe zählen unter anderem technische Probleme in der Infrastruktur, weitere massive und langfristige Lieferausfälle, für die keine ausreichenden Versorgungsalternativen bestehen, oder die Gefährdung der Versorgung der Kunden durch eine Verschlechterung der Versorgung. Die Feststellung der Notfallstufe erfolgt über eine Verordnung der Bundesregierung, über die das BMWK in einer Pressemitteilung informiert. Durch Feststellung der Notfallstufe kommen zusätzliche hoheitliche Maßnahmen der SoS-VO und damit das Instrumentarium des Energiesicherungsgesetzes (EnSiG) und der Gassicherungsverordnung (GasSV) in Betracht. Im Wege von Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder Verfügungen der zuständigen Stelle könnten damit ein Rückgriff auf strategische Gasvorräte, eine Erhöhung des Produktionsniveaus oder ein Brennstoffwechsel der Nutzer angeordnet werden. 

Ein Eingreifen in den Gasmarkt findet erst in der Notfallstufe statt. Derzeit arbeitet die Bundesnetzagentur Abschaltpläne aus, die im Fall von Lieferausfällen zum Tragen kommen und zunächst die produzierende Industrie treffen. Privathaushalte und besonders geschützte Kunden (Gesundheitssektor und kritische Infrastruktur) wären als Letztes von den Abschaltungen betroffen.

Aufbau einer LNG-Infrastruktur

Zur weiteren Diversifizierung der Gasversorgung wird vermehrt der Einsatz von Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, kurz: LNG) diskutiert. Derzeit ist in Deutschland noch keine ausreichende LNG-Infrastruktur vorhanden. In einem Memorandum of Understanding einigten sich nun die Kreditanstalt für Wiederaufbau, der niederländische Erdgasfernleitungsnetzbetreiber Gasunie und RWE am 4. März 2022 auf die Errichtung eines LNG-Terminals in Brunsbüttel, über den erstmals der Import von LNG in Deutschland möglich sein könnte. Langfristig ist – gerade im Hinblick auf das Erreichen der Klimaschutzziele – ein Umstieg auf Wasserstoff vorgesehen. So soll auch der Terminal in Brunsbüttel auf Wasserstoffderivate umrüstbar sein, sodass die Versorgungssicherheit mit Energie und Diversifizierung des Gasimports beim Übergang zur Klimaneutralität bis 2045 sichergestellt ist.

Fazit

Die Bestrebungen zur Stärkung der europäischen Unabhängigkeit von Erdgaslieferungen aus Drittländern nehmen insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen zu. Deutschland hat in seinem Präventions- und Notfallplan Gas auf der Grundlage der europäischen SoS-VO Instrumentarien zum Umgang in solchen Notlagen vorliegen. Das Ausrufen der Frühwarnstufe ermöglicht eine engere Analyse und Bewertung der Versorgungssicherheit. Markteingriffe und Auswirkungen auf die Haushalte sind damit noch nicht verbunden. Alle Energieversorgungsunternehmen, Netzbetreiber und von Erdgas abhängige Industrieunternehmen müssen sich jetzt auf die Notfallstufe vorbereiten und gemeinsam Pläne erarbeiten. Vertragliche Lieferregelungen dürften dabei dann aufgrund des hoheitlichen Eingriffs außer Kraft gesetzt sein.

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